Die menschliche Stimme

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Es gibt einige wenige Sänger, im englischen „natural singer“ genannt, die scheinbar ohne große Probleme über ihren ganzen Stimmumfang hinweg frei singen können. Die meisten von uns müssen jedoch viel Arbeit und Üben hineinstecken. Warum ist es so, dass wir Singen als etwas Außergewöhnliches und Besonderes sehen, und dass manche sogar die Verbindung zum Singen komplett verloren haben? Und wir es aber trotzdem so unbedingt wollen?

In dem Buch „The Human Nature of the Singing Voice“ geht Peter T. Harrison der menschlichen Stimme auf den Grund (leider nur auf Englisch erhältlich). Nachdem ich mich aufgrund meiner eigenen Stimme und durch die Erfahrungen in meinem Gesangsunterricht immer mehr mit diesem Thema beschäftigt habe, bin ich schließlich auf dieses geniale Buch gestoßen.

Jeder Mensch ist mit einem Apparat ausgestattet (Kehlkopf, Stimmbänder, innere und äußere Muskeln usw.), mit dem uns das Singen sprichwörtlich in die Wiege gelegt wird. Wenn wir auf die Welt kommen, ist nicht das erste, was wir von uns geben, Sprache, sondern Töne. Also Singen. Es ist alles da und funktioniert einwandfrei. Unser System wurde sozusagen „designt“ um zu singen.

Einige wenige haben den negativen Effekten unserer Gesellschaft in stimmlicher Hinsicht widerstehen können (durch glückliche Umstände). Die meisten von uns haben allerdings im Laufe der weiteren Entwicklung gelernt, NICHT zu singen. Man lernt die Sprache, also Vokale, Konsonanten, Dialekte, die im optimalsten Fall die Stimme unterstützen (und umgekehrt unterstützt eine freie Stimme den Sprachfluss), im schlechtesten Fall den freien Stimmfluss stören. Als Baby lernt man Sprache, indem man imitiert. Spricht nun die Bezugsperson zum Beispiel in einer heiseren oder auf sonstige Weise unfreien Stimme, oder ist die Artikulation nicht richtig frei, ist klar, dass diese oder andere Angewohnheiten schon von Anfang an aufgegriffen und gefestigt werden.

 

Wir leben zudem in einer Gesellschaft, in der es nicht erlaubt ist, Emotionen zu zeigen, geschweige denn auszudrücken. Unsere Gesellschaft ist eher intellektuell (also durch Sprache) gesteuert, als emotional (durch Singen). Von klein auf lernen wir, nicht zu stören, leise zu sein, unsere Gefühle runterzuschlucken, und somit auch unsere Stimme. Kleine Kinder können ihre Stimme noch frei benutzen, sie jauchzen, juchzen, grunzen, schreien, weinen, singen und vieles mehr, um ihre Gefühle auszudrücken, und das aus vollem Halse. Bis sie jemand bremst.

Der Gebrauch unserer Stimme im Alltag beschränkt sich dann hauptsächlich auf das Sprechen. Wir verlernen nicht nur zu singen, sondern haben auch verlernt, unsere Stimme über weite Distanzen hinweg zu halten (unter anderem durch die technischen Kommunikationsmittel) und auch unsere Sprechstimme in einem weiteren Umfang als üblich zu benutzen (meistens eher monoton um emotionen zu verstecken). Außerdem ist da auch noch das Gender-Klischee. Mädchen werden (oder wurden?) eher dazu erzogen, lieb und nett zu sein, also versteckt man eher die Bruststimme und geht auf die leichtere, lieblichere Seite, nämlich in die Kopfstimme. Männlich zu sein, heißt, stark vereinfacht, eine starke Bruststimme zu haben, und auf keinen Fall in die Kopfstimme zu gehen. Leider braucht man beides, nicht nur zum Singen, auch um die Sprechstimme in gesunder Balance zu halten. Die Muskeln, die ursprünglich zum Singen und zur vollen Benutzung der Stimmkapazität ausgelegt sind, verkümmern, da sie nicht benutzt werden.

Heraus kommt ein Teufelskreis: wir singen nicht, der Mechanismus dafür ermattet, wir verlieren unsere Stimmintegrität (also unsere Singstimme) und hören auf zu singen.

 

Früher oder später kommt aber das Bedürfnis zu Singen wieder hervor, da es einfach in unserer Natur angelegt ist. Wir können uns dadurch emotional ausdrücken, es dient dazu, das Leben zu zelebrieren, und außerdem verbindet es uns mit uns selbst, und wir haben Musik in uns. Es gilt also, unsere „echte“ eigene Stimme wieder zu finden, um zum „wahren“ Ausdruck unseres Selbst zurück zu finden. Das heißt, ganz simpel gesagt, müssen wir lernen, die richtigen Muskeln wieder zu benutzen. Das gilt für Anfänger, die ihre Singstimme lange oder noch nie benutzt haben, als auch für ausgebildete Sänger und Sängerinnen, die Probleme mit ihrer Stimme bekommen oder sich über die Jahre schlechte Gewohnheiten angeeignet haben (Techniken, die Sicherheit geben, aber letztendlich einschränken).

Dieses muskuläre System ist nicht nur unglaublich komplex, bekanntlich ist es auch schwer, Gewohnheiten zu ändern: in diesem Fall heißt es , zu erkennen und gegebenenfalls zu ändern, wie man die Stimme benutzt, welche Sprechgewohnheiten man hat oder was man sich als Kompensationsstrategie beim Singen ausgedacht hat. Es setzt viel Üben und ein „Coaching“ von außen, also regelmäßigen Unterricht, voraus. Welch schöneres Ziel gibt es aber als das: die Stimme zu befreien.

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