Warum du dein Kind beim Singen nie negativ kommentieren solltest

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Sicherlich gibt es Situationen, in denen es unangebracht ist, wenn dein oder ein Kind vor sich hinsingt, aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass viele Menschen seit ihrer Kindheit oder Jugend Singen oftmals mit Scham oder Angst verbinden. Spätestens im Erwachsenenalter kommt aber der Wunsch wieder, einfach so und ganz locker z.B. bei einem Geburtstagsständchen oder im Gottesdienst mitsingen zu können, oder auch zuhause mit sicherer Stimme, die man selbst auch noch voll in Ordnung findet, und die sich vielleicht auch wirklich ganz gut anhört, mitzuträllern. Und dann wundert man sich, warum man denn nicht weiß, wie es geht.

Denn eigentlich ist das Bedürfnis zu Singen tief in uns Menschen angelegt (und auch unser Kehlkopfapparat ist genau dafür gemacht und nicht nur zum Sprechen, genauer gesagt ist es ein und der selbe Apparat!), wir leben nur leider in einer Gesellschaft, in der es nicht mehr zum Alltag dazu gehört und (vor-)gelebt wird. Keiner hat Zeit dafür, der Alltag ist voll mit so vielen Pflichten und To Do`s und Informationen über alle möglichen Kanäle, und es gibt in unsererm Kulturkreis auch kaum mehr Rituale, die verbunden sind mit Singen. Außer an Weihnachten, aber wer kommt schon über die erste oder zweite Textzeile von "Oh Tannenbaum" hinaus?

Ich erinnere mich an eine Situation im Studium, als der Leiter des Madrigalchores der Musikhochschule uns Sängerinnen und Sänger berechtigterweise mit Scham überzog, weil wir, oh Schande, als Musikstudierende in Bayern nicht mal die Strophen von "Guten Abend, gute Nacht" konnten. Ein schönes altes deutsches Volkslied, dass Dave Brubeck in sein Programm einbauen wollte und dann darüber improvisiert hat. Oder eine andere Situation, als wir einen wahnsinnig schönen Chorsatz von "Der Mond ist aufgegangen" nach einem Konzert als Zugabe gesungen haben, und dieses schlichte Lied das Publikum sichtbar am meisten berührt hat.

Das Erinnern von Text, Melodie und Rhythmus ist das eine, und schon an sich ziemlich komplex, wenn man es nicht von Kind an spielerisch lernt, eine weitere Sache ist die Stimmmuskulatur, die ganz plump gesagt, einfach verkümmert, wenn man sie jahrelang oder sogar über Jahrzehnte nicht benutzt. Da man nicht einfach auf eine Taste drücken kann, wie beim Klavier, sondern die Tonproduktion beim Singen übers Hören und Fühlen von Stimmband-Stretching, Stimmbandschluss in Kombination mit Tonhöhen erfolgt, ist das Singen Lernen teilweise richtig herausfordernd, und manchmal einfach nur (stimm-)muskuläre Arbeit in einem langen Prozess!

Beobachtet man Kleinkinder, die noch mehr oder weniger frei und unbelastet sind, gehört das Singen, oder besser gesagt das Töne-von-sich-Geben zum Leben dazu. Und dabei meine ich nicht das Singen von ganz bestimmten Melodien und Texten, sondern einfach Töne, die einem so im Kopf rumschwirren, die beim Spielen, beim Klettern, beim Spazierengehen, beim Fantasieren einfach so rauspurzeln. Es gab einen Wissenschaftler, der Kinder beim Spielen gefilmt hat und wo man das richtig schön sehen und hören konnte. Wenn Kinder gelassen werden, erfinden sie Melodien und Texte und spielen "Musical" gleich dazu.

Ganz unten nach dem Text gibt es ein Video meines Sohnes zu sehen (er gab mir die Erlaubnis, das hier einzubauen). Er sollte Hausaufgaben machen und nach einiger Zeit hörte ich ein "Gesinge" aus dem Zimmer. Ich hab zunächst die Augen verdreht und wollte ins Zimmer platzen und ihn anweisen, dass er sich doch bitte konzentrieren und seine Hausaufgaben machen und nicht rumsingen solle. Wie schrecklich, dass man als Erwachsener tatsächlich gespeichert hat, dass Hausaufgaben machen und Lernen auf jeden Fall nicht mit Freude, Spaß und also auch nicht mit Singen verbunden ist. Ich wurde eines besseren belehrt. Er hat einfach seine Matheaufgaben gesungen und rhyhtmisch variiert.

Aber warum ist es so, dass diese Freiheit und Fähigkeit bei vielen, die keine Musikerlaufbahn oder Ähnliches verfolgen, irgendwann verloren geht? Warum kann man es beim Erwachsenwerden nicht beibehalten?

Neben oben genannten gesellschaftlichen Gründen, neben Persönlichkeit, Charakter und individueller musikalischer Förderung vom Kindesalter an, auch neben dem Anspruch nach Perfektionismus, den man z.B. bei medialen Sendungen wie The Voice Kids abliefern muss, und mit dem dann alles verglichen wird, gibt es noch folgendes, das ziemlich ins Gewicht schlägt:

Negative Glaubenssätze, entstanden aus negativen Erfahrungen:

Es kommen neben den erfahrenen Sänger*innen auch einige Leute ohne musikalischen Hintergrund in mein Gesangsstudio und die erste Vorstellungsrunde beginnt dann oftmals so: „Ich würde gerne singen können, ich singe nur dann, wenn mich niemand hört, weil ich es nicht kann. Und meine Schwester (oder Bruder, Mutter, Vater, Lehrer,…) hat, als ich klein war, zu mir einmal gesagt, ich soll aufhören zu singen, weil es sich so schlimm anhört. Und seitdem traue ich mich nicht mehr zu singen. Aber ich würde es so gerne lernen.“

Dazu eine weitere Anekdote aus meinem eigenen Leben:

Ich sollte irgendwann am Anfang meines Studiums den Unterstufenchor in meiner ehemaligen Schule mit dem Klavier bei irgendeinem Auftritt begleiten. Bzw. war es eine 6.Klasse, die aus sehr vielen Jungs bestand. Einer davon war ein so genannter „Brummer“, also ein Kind, das die Töne nicht trifft und stattdessen vor sich hin brummt. Der Musiklehrer fuhr das Kind ungefähr so an: „Und du machst bitte nur den Mund auf und zu, damit niemand hören muss, wie schlecht du singst, du kannst das nämlich nicht“, oder noch schlimmer.

Ungeachtet der Bloßstellung vor der ganzen Klasse, dem Verderben der Freude an der Musik und dem Gemeinschaftsgefühl bei dem Aufritt, hat dieses Kind sicherlich in seinem ganzen Leben nie wieder den Mund zum Singen aufgemacht. Und wahrscheinlich ist auch Musik generell seitdem mit dieser negativen Erinnerung behaftet.

Wenn der Lehrer ein positiver, motivierender und kompetenter Lehrer gewesen wäre, der gesehen hätte, dass der Junge, obwohl er die Töne nicht trifft, Freude an der Musik und am Singen hat und außerdem gerne mitmacht, dann hätte es folgende Möglichkeiten gegeben:

Er hätte den Jungen einmal beiseite nehmen müssen, um mit ihm folgende Sachen auszuprobieren:

  • Ob der Junge außerhalb der Gruppe Töne vom Klavier oder einem anderen Instrument oder von der Singstimme hören und nachsingen kann. Bei einem Brummer wird das wahrscheinlich erst einmal nicht klappen.
  • Mit seiner Männerstimme könnte er ihm dann optimal vormachen, dass es zwei Stimmen gibt, die man benutzen kann: die Bruststimme und die Kopfstimme. Der Junge identifiziert sich mit Männerstimmen, so dass er hören und vorgemacht bekommen sollte, wie es sich anhört und auch wie das aussieht.
  • Er sollte dann versuchen, die Kopfstimme spielerisch zu benutzen, z.B. mit Jubeln, Juchzen, Jauchzen, Comicfiguren nachahmen, was auch immer. In dem Alter, vor allem vor dem Stimmbruch, ist der Zugang zur Kopfstimme eigentlich immer da.
  • Danach kann der Junge versuchen, die Töne des Liedes im Gefühl und Klang der Kopfstimme zu singen, höchstwahrscheinlich wird das klappen. Und höchstwahrscheinlich kommt eine wunderschöne Stimme dabei heraus.

Danach hat der Junge gleich mehreres gelernt:

  • dass es Brust- und Kopfstimme gibt
  • wie er Töne richtig treffen kann
  • dass er Singen KANN
  • dass er dem Lehrer wichtig ist
  • dass es durch Üben zu Erfolgserlebnissen kommen kann
  • dass er Teil der Gruppe ist und für den gemeinsamen Auftritt gebraucht wird
  • durch das Erfolgserlebnis Selbstvertrauen entwickelt

Und außerdem hätte das den Weg geebnet zu einem Leben MIT Singen und Musik und zur Freude, sich mit der Singstimme auszudrücken.

Wie oben kurz erwähnt, identifizieren sich Kinder mit ihren Eltern oder Bezugspersonen und imitieren sie, um bestimmte Dinge zu lernen. Sprache wird gelernt durch Imitation und damit eins zu eins verbunden ist der Stimmklang und auch die Art und Weise, WIE man die Stimme benutzt. Kommt der Vater z.B. auch nicht in die Kopfstimme und brummt statt mitzusingen?

Dazu noch eine kleine Erfolgsgeschichte:

Eine Freundin erzählte mir von ihrem Sohn, der unter ADHS leidet, Medikamente bekommt und es eben deshalb nicht so einfach hat mit Freunden und in der Schule. Er hört unglaublich gerne Ed Sheeran und singt in seinem Zimmer mit, hat viel Freude daran. Nur leider trifft er keinen Ton, sondern brummt. Interessanterweise wie der Vater ;-). Ich gab ihr den Tipp, alles Mögliche zu versuchen, damit ihr Kind in die Kopfstimme kommt. Nach ein paar Tagen bekam ich eine Nachricht: „Übrigens hat der Tipp mit der Kopfstimme funktioniert. Und er trifft alle Töne.“  

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