Keine Ahnung führt zur Katastrophe
von Josepha Hanner
Gesangslehr*innen dürfen nicht "Keine Ahnung" haben
Letztes Jahr an einem schönen lauen Sommerferienabend Ende August waren meine Jungs und ich auf dem Weg zum Königsplatz, dort gibt es jeden schönen warmen Abend Tangomusik zum Tanzen, Zuschauen, Zuhören, man kann auf den Stufen vor der Staatlichen Antikensammlung sitzen, Wein trinken oder auch nicht, sich unterhalten oder auch nicht, und unten auf dem Platz herum tollen. Nachdem die Jungs Hunger bekamen, haben wir über einen Lieferdienst Pizza bestellt, die wir an einer Straßenecke abholen wollten. Leider mussten wir feststellen, dass der ganze Königsplatz wegen irgendeinem Event mit Gerüsten zugestellt war, so dass wir loszogen, um den Pizzalieferanten abzufangen. Da gibt´s ja einige verschiedene Firmen, die mit ihren Bikes unterwegs sind. Als wir einen von unserer erblickten, rannten wir hin: „Haben Sie zwei Pizzen dabei für die Ecke soundso…?“ – Antwort: „Keiiine Ahnung.“ - ??? - „Haben Sie für den Namen Hanner eine Lieferung dabei?“ – Antwort: „Keiiine Ahnung.“ - ??? – „An welche Adresse müssen Sie liefern? – Antwort: „Keiiine Ahnung“. - ??? – „Sprechen Sie deutsch?“ – „Keiiine Ahnung.“…
Seitdem ist „Keiiine Ahnung“ ein Insider bei uns. Unsere Pizza haben wir irgendwie bekommen, ich erinnere mich nur nicht mehr, wie.
Jetzt geht es im Gesangsunterricht und in der Arbeit mit Stimmen und Menschen leider nicht um Pizza. Als Gesangslehrer*innen haben wir Verantwortung dafür, wie ein Mensch seine Stimme beim Singen (und auch beim Sprechen) benutzt. Wir dürfen nicht „Keine Ahnung“ haben. Wir müssen herausfinden, was der Stimme fehlt oder was zu viel ist, und dann entsprechende Übungen auswählen, damit der oder die Sänger*in die Stimme entsprechend gesund trainieren und benutzen kann. Egal in welchem Genre. Leider muss ich immer mehr feststellen, dass viele Stimmen durch, ich nenne es mal „herkömmlichen klassischen Gesangsunterricht“ KAPUTT gemacht werden. Für mich ist es wirklich eine Katastrophe, wenn ein junger Teenager in einem renommierten Chor ein anstrengendes klassisches Chor- und Orchesterwerk mitsingen möchte und muss, weil er oder sie Mitglied im Chor ist, und nach mehrmaligen Proben Halsschmerzen bekommt und merkt, dass ein Mitsingen so nicht mehr möglich ist. Bei mir im Unterricht stelle ich dann fest, es kommt kaum ein Ton. Keine Kraft in der Stimme, kein Stimmbandschluss, ein paar Töne Umfang, mehr nicht. In der Masse werden die Töne dann irgendwie hochgedrückt. Hinzu kommt: Körperverspannungen, Angst, falsch zu singen, verspannte Zunge, usw, usw. Das heißt für mich, junge Menschen werden in diesem Betrieb stimmlich nicht nur nicht gut begleitet, im Gegenteil, ihre Stimmen werden sogar schon im Wachstum kaputt gemacht. Eine Katastrophe! Vor allem auch Jungen, die kurz vor oder nach ihrem Stimmbruch sind, müssen gut begleitet werden. Wie können Gesangslehrer*innen und Chorleiter*innen so unterrichten, wenn sie „Keine Ahnung“ von Stimmfunktion beim Singen haben?
Es geht hier vielleicht nicht um Profis, die bereits ihren Weg durch haben, ihre eigenen Lehrer gefunden haben und deren Stimme vielleicht von Natur aus relativ gut in Balance ist oder war. Es geht um den alltäglichen Gesangsunterricht. Erwachsene Menschen, die vor lauter Drücken mit äußerer Muskulatur und Benutzen von viel zu viel Luft zum Beispiel generell einen Halbton zu tief singen und dann jahrelang, ja, JAHRELANG, üben müssen, um das wieder weg zu bekommen. Ein paar Jahre lang so falsch geübt, mindestens genauso lang muss man daran arbeiten, es wieder weg zu bekommen. Das kann so frustrierend sein. Und trotzdem, wenn man die richtige Einstellung gefunden hat, kann es so einfach sein!
Ich selbst kam im Studium an der HfM München irgendwann nicht mehr höher als e II. Ich wurde immer in den Alt 2 gesteckt, obwohl ich ein hoher Sopran bin!! Als Lehrerin bekam ich Halsschmerzen, wurde heiser und konnte den Schüler*innen nicht wirklich gut einen Popsong vorsingen. Auf der Suche nach Hilfe hat das meinen Weg geöffnet. Zuerst fand ich eine Lehrerin in „Speech Level Singing“ und dann kam ich weiter zum Institute for Vocal Advancement. Und jetzt? Mein Stimmumfang geht bis cis III und in Übungen noch höher. Ich kann Songs von Eva Cassidy singen, was schon immer mein Traum war. Aber – ich habe 10 Jahre lang daran arbeiten müssen. Ich musste meine Bruststimme benutzen lernen und dann lernen zu mixen. Ein sehr langer Weg. Und das könnte so vielen Menschen erspart bleiben, wenn nur das herkömmliche System von Gesangsunterricht sich endlich öffnen würde. Leider sind unsere Institutionen nicht universitär und werden somit nicht anerkannt. Es muss sich was ändern. Junge Leute singen entweder gar nicht oder im schlimmsten Fall werden sie falsch unterrichtet. Wegen „Keine Ahnung“. Der klassische Gesangsbetrieb muss meiner Meinung nach aufhören, auf Techniken, wie sie schon seit Jahrzehnten in Pop und Rock angewandt werden, herabzuschauen. Diese Techniken sind dafür da, die Stimme gesund benutzen zu lernen, egal in welchem Genre man singt. Für mich als hohe Sopranstimme wäre es viel einfacher, Klassik zu singen. Aber man kann Pop, Rock, Jazz, Musical singen, wenn man richtig lernt, wie. Ein Popsänger, der seine Stimme vom tiefsten Ton bis zum höchsten Ton seines Stimmumfangs mixen kann, der wählen kann, ob er aus stilistischen oder emotionalen Gründen luftiger oder brustiger singen möchte, der Vokalformen einsetzt, um einen bestimmten Sound zu produzieren und der dabei auch noch Musik und Text ausdrückt, das ist für mich mindestens genauso hohe Kunst, wie ein klassischer Opernsänger. Ich persönlich finde es sogar viel anspruchsvoller. In beiden Fällen ist es Hochleistungssport für die Stimme.
Es gibt aber auch die glücklichen Menschen, die beispielsweise einfach immer nur für sich selbst gesungen haben, sich nichts Falsches angeeignet haben, und irgendwann in den Gesangunterricht kommen und feststellen, woah, ich muss eigentlich nur die richtigen Übungen machen für eine gewisse Zeit, und die Stimme läuft. Das ist schon immer sehr faszinierend, so etwas im Unterricht zu erleben. Bei denen kam die Pizza sozusagen immer gleich an den richtigen Ort geliefert :-).
Im nächsten Blog vergleiche ich anhand von youtube-Videos zwei Profisänger aus Pop und aus Klassik in Stimmumfang, Bruststimme, Kopfstimme, Vokalform und weiteren Aspekten. Schaut es euch an!